Donnerstag, 22. Dezember 2011

Orlandos Jahresrückblick

It was a very good year...


Ihnen, geschätzte Leser, allen ein gesegnetes Weihnachtsfest im Kreise ihrer Familien und Freunde, erholsame und freudenbringende Festtagszeit und die allerbesten Wünsche für das neue Jahr 2012.

Dienstag, 13. Dezember 2011

Adieu, Evelyne!

Heute kann, ja: sollte, ja: muss, ein vier Jahre währender Irrtum in der Geschichte des Schweizer Bundesstaates beendet werden - dies ist der Auftrag eines Parlamentes, das in der Pflicht steht, heute morgen die Landesregierung zu wählen.

Es gibt mannigfaltige Definitionen der Regierungskonkordanz, wie sie in der Schweiz seit Ende der 50er Jahre praktiziert wird. Die grundlegenste und mehrheitsfähigste ist, dass alle relevanten politischen Kräfte an der Regierung beteiligt sein sollen. Was wir in den letzten Wochen von verschiedenen Parteien und Parlamentariern zum Thema lesen konnten, gibt einen bezeichnenden Eindruck davon ab, was man unter Konkordanz alles verstehen kann. Eines jedoch kann Konkordanz mit grosser Sicherheit nicht sein: Dass die mit 26,6% wählerstärkste Schweizerische Volkspartei mit nur einem Regierungssitz von sieben abgespeist wird und damit im gleichen kräftemässigen Anteil wie eine der kleinsten Politformationen (BDP, 5,5%) in der Landesregierung vertreten ist.


Wie ein solches Verhältnis legitimiert werde sollte - darauf wäre ich gespannt. In jedem Fall würde es bedeuten, dass ein Paradigmenwechsel in der Schweizerischen Politik Einzug hielte. Den freilich kein Politiker im Wahlkampf seinen Wählern erklärt hätte und dazu gestanden wäre. Keiner von jenen 244, die noch gestern Nacht ein Promille ihres Gehaltes von 120'000 Franken verfressen und versoffen haben und heute morgen eine neue Ära in der Geschichte der Schweiz einläuten, indem sie möglicherweise die bewährte Allparteien-Konkordanz beerdigen.

Es wäre ein weiterer Schritt zur Abschaffung der Schweiz von Innen. Und ein Name steht wie kein zweiter für den unmässigen Narzissmus, die Verantwortungslosigkeit und die Prinzipienlosigkeit und Unaufrichtigekeit der Politikerkaste schlechthin: Evelyne Widmer-Schlumpf. Dieser Name steht für das Überhandnehmen der grassierenden Willkür einer zunehmend vom Volk entfremdeten Classe Politique. Immer mehr wird die direkte Demokratie unterhöhlt, immer mehr wird das Land entgegen dem expliziten Willen seiner Bürger in internationale Institutionen integriert, immer mehr Entscheidungen werden in den Verwaltungen gefällt und umgesetzt.

Vor vier Jahren in einer Nacht- und-Nebel-Aktion hat Evelyne Widmer-Schlumpf sich vor vier Jahren als Intrigantin gegen ihre eigene Partei in den Bundesrat hieven lassen und hat dabei ihre Parteikollegen und die Öffentlichkeit hintergangen, hat dazu öffentlich gelogen und in scheinbar rücksichtslosem Machtrausch das System Schweiz in eine tiefe Krise gestürzt.

Kann sich die Schweiz soviel Willkür leisten? Ich bin der Ansicht: nein.

Es folgten vier Jahre der schlimmsten Krisen, die immer auch Führungskrisen waren: ein zerstrittener Bundesrat, aus dem Lot geratene Machtverhältnisse, schwere Niederlagen in Konfliktsituationen mit dem Ausland, schamlose Lüge, Orientierungs- und Hilflosigkeit. Ein ratloser Bundesrat.

Heute hat das neue Parlament die Chance, eine legitime weil breitmöglichst abgestützte Landesregierung zu wählen, die nicht durch ihren Bruch mit der grundlegendsten Begrifflichkeit von Konkordanz eine neue innenpolitische Krise verursacht, sondern zum Wohl des ganzen Landes in der bevorstehenden schwierigen Legislatur in Konkordanz regieren kann. Denn Konkordanz (lat. concordia, concordare = in Enklang sein, wobei corda = Herz).

Das Parlament muss dazu nur Evelyne Widmer-Schlumpf durch einen der beiden Kandidaten Hansjörg Walter oder Jean-Francois Rime ersetzen.

Manchmal ist doch Politik so einfach!

Sonntag, 4. Dezember 2011

Die Nebel lichten sich, und siehe da: die Konkordanz!

Also, die politische Lage nach den Wahlen 2011 ist jetzt (nach dem letzten kantonalen Wahlgang am 4. Dezember 2011) eindeutig und klar.
Bruno Zuppiger: Er vertritt die Wahlsieger
Die Schweizerische Volkspartei SVP ist klar Wahlsiegerin. Daran gibt es nichts zu rütteln und zu deuteln. Die Volkspartei hat mit über 26 % den grössten Stimmenanteil und stellt mit 60 Parlamentariern die grösste Fraktion in der Vereinigten Bundesversammlung. Mit fast zehn Prozentpunkten Rückstand folgt die Sozialdemokratische Partei der Schweiz, auf den Plätzen drei und vier folgen die arg gebeutelten bürgerlichen Parteien CVP und FDP. Mit Anteilen von unter 10 % folgen parteipolitische Kleinformationen wie die Grünen, die Grünliberalen, die Evangelische Volkspartei, die Bürgerlich Demokratischen, die Lega dei Ticinesi und weitere Splittergruppen. Kommunisten und Christlich-Konservative sind gar nicht mehr vertreten.
In der Schweiz pflegt man seit 1959 erfolgreich die Regierungsform der Konkordanz zwischen den vier stärksten Parteien, wobei die drei stärksten Parteien je zwei und die nächstkleinere Partei einen Sitz in der siebenköpfigen Regierung stellt.

Möglichkeit einer vernünftigen Wahl: Jean-Francois Rime
Es handelt sich um eine Art vernünftige, grosse Koalition, die dem Land seit vier Jahrzehnten Stabilität, Wachstum, Wohlstand und damit eine beispiellose Sonderstellung weltweit verliehen hat. Und es sei gesagt: Wir dürfen froh und auch ein bisschen stolz sein auf das, was unsere Vorgeneration, und jene vor ihr bewerkstelligt hat. Wir alle sind direkt oder indirekt Nutzniesser einer einzigartigen internationalen aber auch intern-Schweizerischen Situation, die uns diesen hohen - vor allem im Vergleich zu unseren Nachbarvölkern und darüber hinaus zu den meisten westlichen Demokratien - Lebensstandard in praktisch allen Bereichen ermöglicht.

Am Mittwoch, 14. Dezember stehen Gesamterneuerungswahlen im Bundesrat an, unserer Landesregierung. Jawohl, denn seit 2003 wird die Regierung in diesem Lande nicht mehr einfach still bestätigt, sondern die Wahlen sind zu einem Politikum geworden, wo frisch nach der Wahl das ganze System der Schweizer Regierung neu erfunden wird. Damit ist die Schweiz zur hundsgewöhnlichen Demokratie geworden, wie es jede andere hundsgewöhnliche Demokratie schon immer war: Die stärksten Kräfte nehmen gemeinsam die Verantwortung wahr und bilden die Regierung.
Ein übler Störfaktor: Evelyne Widmer-Schlumpf
Die Wahlgewinnerin, die Volkspartei schlägt zwei Kandidaten vor. Sie heissen Bruno Zuppiger und Jean-Francois Rime. Das Parlament der Schweizerischen Eidgenossenschaft wählt also einen von den beiden, an die Seite des bereits amtierenden Bundesrates der SVP, Ueli Maurer. Oder?

Die anderen zur Wahl stehenden Bundesräte und Bundesrätinnen kommen ja aus den nachfolgend wählerstärksten Parteien, der SP, der FDP und der CVP. Evelyne Widmer-Schlumpf ist als Vertreterin einer nach den Wahlen nur knapp über 5 %-Partei ein Störfaktor. Und entspricht nicht der Idee der Schweizerischen Konkordanz. Also muss man sie mit entweder Zuppiger oder Rime ersetzen. Oder?

Oder denke ich komplett falsch?

Montag, 24. Oktober 2011

Vorläufiges Endresultat

Nicht die Mitte steht heute als Verliererin da. Die SVP verliert 3%, das siamesische Zwillingspaar SP/Grüne verliert 3,1%. Rotgrün und die Rechtsbürgerlichen haben von den Stimmbürgern und Stimmbürgerinnen deutlich die Grenzen aufgezeigt gekriegt.

Ein Sozialdemokrat von altem Schrot und Korn sagte zu mir heute: "Ich weiss nicht, ob wir Linken uns über die Verluste der FDP allzusehr freuen sollten. Nicht, wenn wir uns ansehen, wer die Liberalen beerbt...".

Wer beerbt die erodierende traditionelle Mitte? Wer sind diese orientierungs- und kompasslosen, ohne jegliches weltanschauliche oder politphilosophische Fundament in postmoderner Beliebigkeit vor sich hinspontisierenden "Neuen Mitteparteien", die das in Städten und Agglos lebende Dummvolk für vertrauenswürdig genug empfinden, die Geschicke dieses Landes in diesen schwierigen kommenden Jahren zu führen? Wer sind diese aus dem sprichwörtlichen Nichts kommenden Gutmenschen, die in jedes 20-Minuten-Kamerächen und jedes Radio24-Mikrofönchen etwas von "lösungsorientierter Politik der Mitte, "Solarpanels" und "Nachhaltiger Energiepolitik" faseln?

Und wer wählt solche Gummimenschen mit Gummimeinungen mit Duzendgesichtern und hübschen Deux-Pièces, die aussehen, wie Jessica und Kevin Normalverbraucher auch gern aussehen würden: Wie das Personal in belanglosen US-Vorabendserien. In diesem Schönheitswettbewerb haben die Geschmeidigen, die mit dem netten Äusseren, die Glatten, Lieben, Braven natürlich gute Chancen. Es erinnert ein wenig an diesen Film The Stepford Wives.

Jedenfalls bessere, als Politiker, die zwei, drei Schritte weiterdenken und Probleme ansprechen, solche mit Ecken und Kanten, die erkennen, dass es kein Rezept sein kann, einander nur bloss nicht weh zu tun in der Politik.
Stepford Wifes? Ein neuer Politikertyp, jung, adrett, diffus.
Ein neuer Politikertyp scheint gefragt, der niemandem weh tut, der vor Aktivismus und oberstupiden Ideen nur so überschäumt, wie gewisse Warenpostenunternehmer.

Gewonnen haben heute die S-Bahn-Bürger, die mit den riesigen Kopfhörern am Ohr, die gerade entweder auf Facebook oder am Youtube-Musikvideos am Betrachten sind, die ihre Hauptinformation über die Welt, in der sie leben, aus dem Blick am Abend beziehen. Und aus Facebook. Wo stümperhafte Journalisten eine gigantische Unterhaltungs- und Informationsberieselungsmaschinerie in Gang halten und wo politische Themen in dekadentem Zynismus entweder auf Realschülerniveau oder auf Textmessage-Format eingekocht werden. Und selbst seriöse Medien so etwas wie eine Hofschranzen-Berichterstattung liefern und völlig vergessen, als vierte Gewalt im Staat zu funktionieren und Regierung, Behörden und das Parlament zu kontrollieren und kritisch zu hinterfragen. Kritisch hinterfragt wird nur die SVP. Das muss reichen.

Zugunsten einer Konsumentenmentalität in der Politik. Perfekte Projektion des eigenen Unvermögens und Desinteresses auf die gewählten Politiker. Und das Schlimme dabei: Nach vier Jahren Stillhalten im Parlament (Tiana Moser) werden diese Fratzen wiedergewählt, weil sie immer noch "jung und unverbraucht" sind.
Jung und unverbraucht: Tiana Moser hat vier Jahre lang erfolgreich stillgehalten.
Und gewonnen haben die Meinungsbeeinflusser, die glauben, man könne alles auf eine lächerliche Smartvote-Spider-Matrix pressen, was an über Politik zu wissen braucht. Als gälte es - wie bei Parship, wo diese Menschen Parner suchen - eine möglichst grosse Übereinstimmung in allen Punkten zu finden. Was für eine Beziehung schnarch ist, kann für die Politik ja wohl kaum funktionieren, oder? Logisch werden dann eben jene Politiker ein Match, die möglichst die Bandbreite abdecken, aber ja nicht wirklich ausschlagen, nach irgend einer Richtung. So bleibt alles im Unverbindlichen, Vagen, Oberflächlichen.
Ungerichteter Aktionismus für Politikkonsumenten - Otto Ineichen
Nehmen wir zum Beisiel der Aargau, dieses Soziallabor der urban-ländlichen Aggloschweiz mit (bösen) Autobahnen und (abzustellenden) AKWs. Dass dort eine Pascale Bruderer ohne jeglichen Leistungsausweis zur Ständerätin gewählt wird, ist ein deutliches Symptom für eine ernstzunehmende Krise im politischen Denken und Handeln der Citoyens: Die fleischgewordene Gutmenschin mit Augenaufschlag, aparten Kleidchen, einem politischen Profil, wo für jeden e chli öppis dabei ist, wie eine Pralinenschachtel. Self-Service. Kindertagesplätze sind auch dabei. Das ist doch sozial, oder?

Verhältnis zu Europa, Energiepolitik, Sozialwerke, Einwanderung, Wirtschaftsentwicklung, Verkehr, Bildung - die neuen Bürger wollen von all diesen schwierigen Fragestellungen verschont bleiben und in ihrer Blase leben, wo man es einer "Neuen Mitte" mit diffusen Haltungen, Überzeugungen und Prinzipien überträgt, das Land zu führen. Damit man mehr Zeit hat, (subventionierte) Solarpanels aufs Dach zu schrauben, Facebookfreunde zu sammeln, Youtube-Filmli anzusehen, geile Klamotten einzukaufen und in den Ausgang zu gehen. Oder an "Events". Das Wichtigste ist, dass man cool aussieht, wenn man an der Bar rumsteht. 20-Minuten-cool.

Offenbar spüren die Menschen nur mehr sich selbst unter ihren Kopfhörern. Die Rechte wie die Linke hat es verpasst, glaubhaft zu machen, dass schwierige, grundsätzliche Entscheidungen anstehen. 

Es könnte ungemütlich werden, wenn diese Leute aus ihrer Bubble erwachen und in der Realität ankommen.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Die Abwahl - ein undemokratisches Komplott

Heute empfehle ich einen ausgezeichneten Dokumentarfilm von Hansjörg Zumstein aus dem Jahre 2008.

Blutrünstig, wie ein Krieger in einem antiken Drama lässt sich der ehemalige Bundesratskandidat Luc Recordon (Grüne/VD) am Morgen des 12. Dezember 2007, kurz vor der folgenschweren Abwahl von Christoph Blocher aus dem Amt vernehmen:

"Sind Sie denn jetzt noch Kandidat oder nicht?" - "Nein, nein. Denn wir haben nun die Sicherheit, dass Madame Widmer-Schlumpf von der SVP Graubünden eine Wahl annehmen würde. Meine Kandidatur war wie ein Schild. Und das Schild soll im letzten Moment hochgerissen werden und das Schwert soll hervorschnellen. Frau Widmer-Schlumpf ist das Schwert."

So martialisch war das Geschehen unter der Bundehauskuppel selten. Vielleicht gab es in den vergangenen 150 Jahren keine so kriegerische Situation in der Schweizer Geschichte. Der FDP-Präsident sagte dazu:

"Normalerweise sollte die Demokratie nicht so funktionieren. Ein Geheimplan zur Abwahl eines Bundesrates gab es in der Geschichte der Schweiz nie!" (Fulvio Pelli)



"Das muss man sehr diskret machen. Wenn es publik geworden wäre, dann hätten wir ein Riesenproblem gehabt - es wäre nie zustandegekommen." (Christophe Darbellay)

"Wir wussten nach dem 22.November, dass wir nicht mehr aktiv nach Alternativen (zu Eveline Widmer-Schlumpf) suchen mussten. Das teilten wir der CVP-Fraktionsspitze im engen Kreis mit, damit sie es vorbereiten konnten, aber ohne, dass das bereits in der Sonntagspresse vor der Wahl breit diskutiert werden würde." (Ursula Wyss)

An der Medienöffentlichkeit vorbei: SP-Fraktionschefin Ursula Wyss.
"Von Eveline Widmer-Schlumpf bis Ueli Maurer habe ich heute Abend einige Namen gehört. Aber von all denen wird keiner die Wahl annehmen, weil unser einziger und offizieller Kandidat Christoph Blocher ist." (Maximilian Reimann, 11. Dez. 2007) 

"Sie hat mich in eine Sitzung angerufen und ich sagte ihr, sie habe morgen reelle Wahlchancen. Sie entgegnete, ich müsse überhaupt keine Angst haben und versicherte, sie würde dieses Amt nicht annehmen." (Ueli Maurer, über den Abend des 11. Dez. 2007)

Parlamentarisches Komplott: Christoph Blocher.

Die Verschwörer haben 2007 klandestin und unter gezielter Irreführung der Öffentlichkeit die Regeln in der Schweizerischen Politik neu definiert. Was vor vier Jahren geschehen ist muss und wird korrigiert werden!

Geheimpläne und vorsätzliche Irreführung der Medien und der Öffentlichkeit: Was wenn nicht das ist denn undemokratisch, bitteschön? - Setzen wir ein Zeichen gegen die unheimlichen (Anti-)Demokraten!

War der erste Sündenfall - die Abwahl Ruth Metzlers aus der Landesregierung im Jahre 2003 - noch absolut transparent, wochenlang im Voraus bekannt und medial von Anfang an begleitet, und überdies aufgrund von dramatischen Gewichtsverschiebungen zuungunsten ihrer Partei innerhalb des Konkordanzsystems legitimiert und vollzogen worden, so brauchte es vier Jahre später eine veritable Nacht-und-Nebel-Verschwörung, eine Ranküne, die von ganz niederen, neidgenährten Instinkten geleitet war, um den erfolgreichen und im Volk beliebten Bundesrat Christoph Blocher aus dem Amt zu putschen. Ganz knapp ist es den damaligen Wahlverlierern am 12. Dezember 2007 gelungen, den wohl herausragendsten und visionärsten lebenden Politiker der Schweiz wegzumobben und durch eine völlig unbekannte, machtgeile, willige Intrigantin zu ersetzen. Und damit wurde das politische Klima in der Schweiz auf lange Zeit hinaus vergiftet.

Gift kennen wir aus der Politik des dunkelsten Mittelalters, aus Shakespeares Dramen, noch 2005 wurde in der Ukraine der Volksheld Juschtschenko von seinen politischen Gegnern vergiftet. In der Schweiz sind wir offenbar nicht viel weiter.

Nun denn, der giftige Stachel sitzt tief und wird viele Wähler auch vier Jahre später mobilisieren. Daran besteht kein Zweifel. Es gilt, vergangenes Unrecht zu korrigieren. Und die Konkordanz wiederherzustellen!

Die Schande von 2007 wird gesühnt werden! Die bürgerliche Schweiz muss sich aus dieser Umklammerung von defätistischem, linkem Ungeist und dekadent-zeitgeistiger Beliebigkeit befreien und eine Restauration bürgerlicher, rechtschaffener, freisinniger und abendländisch-christlicher, in der Tradition des Landes und des Volkes verwurzelter und nach wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt for the biggest number trachtender Tugenden vorantreiben.

Dieser Restauration steht nun nichts mehr im Wege. Sie haben es in der Hand. Gehen Sie wählen!

"Ich habe in einer Rede vor der Fraktion um 7 Uhr (am 12. 12. 07) erstmals den Namen Widmer-Schlumpf empfohlen -- und gezeigt, wie man das schreibt" (Christophe Darbellay)

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Nachtrag zu: Auf ganz heiklem Terrain

Heute wurde das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich im Fall Regensdorf gefällt.

Montag, 17. Oktober 2011

Wie Rehe im Scheinwerferlicht

Der Wahlkampf sei langweilig.
Die Akteure scheinen sich tatsächlich grauenhaft zurückzuhalten, wie so oft in der Schweizer Politik und Gesellschaft ist Moderation der Konsens. Keiner will was falsch machen. Kein Wunder, sage ich.
Wenn sich wer hervortut und die Dinge beim Namen nennt, ist er ein "rechter Polteri", was dann "unschweizerisch" ist und das politische Klima "vergiftet". Oder ein "Politclown", der dem heiligen Geschäft der grauen Konsenspolitik nicht wirklich gewachsen ist und ergo nicht ernst genommen werden braucht.
Wer sich im Wahlkampf also nicht bieder lächelnd zurückhält, verstösst gegen den CH-Konsens von Demokratie, bei dem es nicht darum geht, dem Wähler transparent und ehrlich seine politische Positionen darzulegen, sondern sich bei ihm einzuschmeicheln als geschmeidiges Chamäleon, das dann schon richtig entscheidet (nach welchen Kriterien?) in SACHFRAGEN. Richtungswahlen? Iwo? Wie unschweizerisch!

Konkordanz-, Konsens- und Sachfragentauglichkeit scheint gefragt in der Schweiz - nicht das, wofür ein Volksvertreter von seinen Wählern eigentlich gewählt werden sollte: Berechenbarkeit, klare Prinzipien, Verlässlichkeit, deutliches Profil. Nein, Geschmeidigkeit und unverbindliche Zeitgeistigkeit scheinen die Fähigkeiten zu sein, die Kandidaten im Wahlkampf 2011 bei sich selber betonen.

Biederes Gegrinse - die Akteure halten sich brutal zurück.
Unser aller Tagimagi-Tussi/"Schwanzlutscherin"/Starautorin/Neofeministin/Neomami/etc (in exakt dieser chronologischen Reihenfolge) Michele Roten hat sich in der letzten Ausgabe ihres Publikatiönchens über Wahlplakate ausgelassen. Den Link mag ich gar nicht heraussuchen. Sie befand, die einzigen, die aussähen, als hätten sie noch ein "Leben neben der Politik" seien die Sozis. Das deckt sich nicht ganz mit meiner Wahrnehmung. Aber der Reihe nach!

Wahlplakate sind so öde und steif, wie der Wahlkampf beschrieben wurde (siehe oben); dem überlebensgrossen Grinsgesicht wird sogar die stringente Botschaft geopfert. Am herzigsten sind wie immer die CVPler und EVPler: Sie blicken ins Kameraobjektiv, als wäre es ein Neugeborenes und man hebt förmlich die Augenbrauen und will JÖÖÖÖ rufen. So unschuldig, so lieb, so brav. Brav sind auch die lieben Genossen: die Männer schauen drein als hätten sie permanent Angst davor, bei einem politisch inkorrekten Gedankenverbrechen ertappt zu werden oder einer Genossin das Scheinwerferlicht zu rauben. S'sind eifach Liebi! Wie Rehe, die auf der Waldstrasse nächtens ins Scheinwerferlicht geraten. Ihre Schnäuze und modischen Brillen und neckischen Dreitagebärte täuschen mich (im Gegensatz zu Roten) nicht: Hässliche, steife SP-Frauen, schwache, steife SP-Männer. Wie heisst eigentlich deren Zürcher Ständeratskandidat? Eine versteifte neue Klein-Bourgeoisie. Die neuen überkorrekten Quartier-Spiesser wählen SP. Oder grün. Weil die für Velowege sind. Mit Helmpflicht.
Bei den EDU-Leuten hat Roten recht: man blickt in ernste Mehrzweckhallengesichter, Sonntagmorgen, evangelikaler Gottesdienst, noch das Lächeln ist irgendwie eine Qual. Dagegen wirken die Grünen fast munter; stilisiert ungepflegt und schreckschraubig. Das Glättli-Bubi möchte man mal am Morgen so richtig brutal anrempeln in der S-Bahn! Leider fährt der Velo. Mit Helm.
Über die Mikroparteien BDP und GLP mag ich weder Zeit noch Gedanken verschwenden.
Dann kommen die Bürgerlichen: FDP - hä? War da was? Das knackige Hardliner-Vollweib Doris Fiala ist von Orlando gewählt (am liebsten Nationalratspräsidentin auf Lebenszeit! lechz! - aus Liebe zur Schweiz), der professorale Gutzi-Futzi...mal sehen. Sonst ist das eine Versammlung von Langeweilern, tschuldigung!
Bei der SVP schauen sowieso immer alle drein, als hätte der Fotograf einen dreckigen Witz (so einen richtig frauen- oder fremdenfeindlichen) erzählt. Wenn sich die mal locker geben und als Schwinger posieren muss sich sofort der Schwingerverband von der "Vereinnahmung" distanzieren - kein Wunder ist der Wahlkampf so öde, arme Schweiz! Bei der Volkspartei bezaubert allenfalls der Eiskalte Blonde Engel aus Winterthur: Nathalie Rickli könnte ohne weiteres die Film-Bösewichtin mimen: "Ich wott nüt weniger als d'Wältherrschaft, Herr Bond, muah-ah-ah-ah!"

Plakatvandalismus überall - arme Schweiz!
Derweil regen mich als täglichen HB-Benutzer die flächendeckenden SVP-Plakate langsam auf. W*t*f*? Gegen das elegante Blocher-Ständeratsplakat habe ich nichts, obwohl es keinen Bezug zur Partei aufweist. Aber die stramme Choreografie von alternierenden Masseneinwanderungsstopp- und SchweizerwählenSVPplakaten im HB Züri findet sogar der ach so unzimperliche Orlando zuviel des Guten! So stellt er sich Propaganda in Diktaturen vor. Wie kann das die SBB zulassen (oder die APG)? Das ist idiotisch.


Wen Orlando wählt und warum: das gibts demnächst hier auf diesem Kanal. Stay tuned.

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Auf ganz heiklem Terrain

Vor Wochen tobte der Streit um das Scheusal Hirschmann und den Zweifeln in wenigstens einem Fall von Nötigung, der dem Millionenerben und Clubbesitzer zur Last gelegt wurde. In einem anderen Urteil mit offenbar vollkommenst anderem Sachverhalt unter natürlich ganz anderen (umgekehrten) Vorzeichen und in einem natürlich völlig anderen Kontext und ganz und gar anders gelagerter Konstellation kommen die Richter zu einem doch recht verblüffenden Urteil.


Die Täter, drei an der Zahl, werden freigesprochen. Und das Opfer? Lügte es?


Und es tobt gar nichts. Tote Hose.

Und dies, obwohl es in diesem Fall in Form von Videoaufzeichnungen sogar Beweismaterial gab!


Und was jetzt?

Ist den Richtern nicht zu trauen? Oder nur diesen Richtern nicht?
Liegen die Staatsanwälte so daneben? Sind die Verteidiger so mies/so fantastisch?
Und was ist mit den Gutachtern und PsychologInnen und anderen Experten?
Zur Hölle, was ist mit diesem Rechtssystem los?

Mein Vorschlag: Wiedereinführung der Geschworenengerichte, aber subito!

Montag, 3. Oktober 2011

Trommelwirbel..

Dieser Blog pausiert aus privaten, beruflichen, persönlichen, komplizierten, kurz: unspektakulären Gründen bis zur Woche vor den Eidgenössischen National- und Ständeratswahlen am 23. Oktober 2011. Dann gehts hier wieder zur Sache! Und wie...


Ah, und wichtig: gehen Sie wählen!

Sonntag, 11. September 2011

September 11th, 2001 - Lest we forget!

Requiem aeternam dona eis, Domine:
et lux perpetua luceat eis. exaudi orationem meam, 
ad te omnis caro veniet. Requiem aeternam dona eis Domine




Iudex ergo cum sedebit,
Quidquid latet apparebit:
Nil inultum remanebit.




Inter oves locum praesta,
Et ab haedis me sequestra,
Statuens in parte dextra.


Pie Iesu Domine,
dona eis requiem. Amen.

Montag, 5. September 2011

Jugendgewalt - mit zweierlei Mass

 von Zoé

Wir alle wissen: wenn es um Themen wie Jugendkriminalität oder Gewalt in Paarbeziehungen geht, wie kürzlich hier und im Mamablog, dann ist einer der Faktoren, die als erste ins Blickfeld geraten, derjenige der Kindheit des/der Gewaltausübenden. Menschen, die in einem lieblosen oder gewalttätigen Umfeld aufwachsen, haben gegenüber denjenigen, die eine unbesorgte und behütete Kindheit erleben dürfen, ein unbestrittenes Defizit, welches sie manchmal ein Leben lang nicht aufholen können - soweit der Forschungsstand. 2004 wurden bei Ratten Langzeit-Studien zur 'Elternliebe' durchgeführt, bei denen sich gezeigt hat, dass es - wie bei uns Menschen auch - solche und solche Eltern gibt. Fürsorglichkeit lässt sich bei diesen Tierchen (im Gegensatz zu Menschen) leicht messen: entscheidend ist, wie oft (beim Menschen würden wir wahrscheinlich sagen: wie hingebungsvoll) ein Rattenweibchen seine Jungen leckt und pflegt. Tut sie das auf regelmässiger Basis, haben wir es mit einer 'high licking and grooming mother' zu tun. Tut sie es nicht, sind ihre Werte 'low', und ihr Nachwuchs tendenziell vernachlässigt. So weit, so gut. Allerdings verhält es sich wohl so, dass sich die Pflege der Mutter nicht nur nachhaltig auf das spätere Stresslevel des Nachwuchses auswirkt, sondern auch auf deren eigenes elterliches Verhalten, denn: vernachlässigte Rattenkinder neigen später selbst zur Kaltherzigkeit. Offenbar, und das ist die eigentlich überraschende Erkenntnis, schreiben sich die Folgen der Brutpflege sogar in die genetische Ausstattung der Rattenkinder ein. Zum selben Schluss kommen erste epidemologische Studien beim Menschen. 


Erziehung hat also nicht einfach nur lebenslange, binsenwahrheitliche Auswirkungen auf unser Verhalten, sie greift mitunter direkt in unser Erbgut ein. In diesem Forschungsbereich ist unter anderen die relativ junge wissenschaftliche Disziplin der Epigenetik tätig. Sie geht der Frage nach, wie molekulare Mechanismen bestehende Erbanlagen ein- oder ausschalten und damit bestimmen, ob selbige wirksam werden oder nicht. Gene und Erziehung, so das bisherige Fazit, befinden sich in einem steten Wechselspiel, insofern als das Umfeld massgeblich mitentscheidet, welche Gene zur Entfaltung kommen - und welche nicht. Oder wie es der Spiegel formuliert: "Es ist nicht nur wichtig, was in den Genen geschrieben steht, sondern auch, was die Gene erleben."

Wem in der Kindheit nicht Sorge getragen wurde, der weist eine erhöhte Chance auf, im Jugend- und Erwachsenenalter für sich und für andere nicht hinreichend Sorge zu tragen. Doch auch wenn ein Mangel an Geborgenheit und Zuwendung sich zeitlebens auf die psychische und physische Gesundheit von Individuen auswirken kann, gibt es zugleich Faktoren, die einer solchen Entwicklung potentiell entgegensteuern. Dazu gehören die eigene Intelligenz und Willenskraft, ausserfamiliäre emotionale Beziehung sowie - man höre - die Begeisterung für bestimmte Werte und Lebensziele. Es verbietet sich demnach ein einfacher Fatalismus: ein Stückweit hat ein jeder (immer noch) sein eigenes Schicksal in der Hand; ein Kind aus einem gewaltgeprägten Umfeld muss noch lange nicht selbst zum Gewaltausübenden werden. Dennoch sind wir uns alle darin einig, dass eine zerrüttete Kindheit im Deliktfall einen strafmildernden Umstand darstellt. 

Was aber, wenn es sich umgekehrt verhält, wenn wir es mit einem untypischen Gewalttäter zu tun haben? In Berlin steht zur Zeit Torben P. vor Gericht, der in einem U-Bahnhof seinem Opfer derart gravierende Verletzungen zugefügt hat, dass es gemäss Aussage der Gerichtsmedizinerin nur durch Zufall nicht zu einem tödlichen Ausgang gekommen ist. Torben wird jedoch aller Voraussicht nach laut Meldung der Süddeutschen um eine Haftstrafe herumkommen, dies weil eine Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe die Empfehlung abgegeben hat, es bei einer Bewährungsstrafe zu belassen. Der Gymnasiast sei kooperativ, habe sich aus eigenem Antrieb eingehend mit der Tat auseinandergesetzt und Interesse an einem Anti-Aggressionstraining bekundigt. Zwar bestehe ein grundsätzlicher therapeutischer Bedarf, jedoch 'kein Erziehungsbedarf' über das hinaus, was seine Familie zu leisten imstande sei. Auch habe der höfliche und aufmerksame junge Mann zwischenzeitlich dem tatverursachenden Alkohol abgeschworen und sich stattdessen der Religion zugewandt. 

Ein anderer mildernder Umstand liest sich wie ein Witz: gemäss Aussage einer Sachverständigen habe für das Opfer zwar eine 'potentielle Lebensgefahr' bestanden, doch seien die Verletzungen durch die Tritte des Angeklagten wegen der weichen Gummisohle an dessen Schuhen letztlich nicht lebensgefährlich ausgefallen. Tritte, die gegen den Kopf des Opfers gingen, nachdem Torben es bereits mit einer Flasche niedergeschlagen hatte, woraus ein Schädel-Hirn-Trauma resultierte. 

Angesichts der Umstände unterscheidet sich der 18-jährige deutlich vom geläufigen Jugendschläger. Er besucht eine höhere Schule und wird sein Abitur fortsetzen können; hierführ erhält er gegenwärtig in einigen Fächern Einzelunterricht. Sein Elternhaus scheint intakt, Schuld an dem Vorfall soll ein übermässiger Alkoholkonsum sein. Aber: ist es fair, einem Täter, der bislang offenbar beste Voraussetzungen in seinem Leben hatte, die Haftstrafe zu ersparen, während ein anderer mit weniger glücklichen Ausgangsbedingungen vom Gesetz härter angefasst wird? Mir scheint hier ein moralisches Dilemma vorzuliegen, aus dem uns auch die neueste Forschung nicht heraushelfen kann. 

Freitag, 26. August 2011

Klartext: Häusliche Gewalt und Migrationshintergrund

von Zoé

Der Club und mit ihm der Tages-Anzeiger lieferten diese Woche ein weiteres Paradestück in Sachen verfehlter Integrations-Politik. Club-Thema war der Doppelmord von Pfäffikon, von der Schlagzeile der Tagi-TV-Kritik wäre man jedoch nicht darauf gekommen: 'Schweizer Männer machen mehr Probleme als Ausländer', so die polemische Überschrift. Wohlgemerkt Schweizer Männer mit ausländischer Ehegattin. Diese Aussage hatte Carola Ernst, ihres Zeichens Leiterin der Integrationsschule Fischental (ZH), in die Club-Diskussionsrunde geworfen. Ihrer Beobachtung nach kämen so manche mit Ausländerinnen verheiratete Schweizer Männer mit der wachsenden Integration ihrer Frauen nicht klar. 

Nun, inwieweit ihr Statement für Schweizer Männer ohne ausländische Ehefrau repräsentativ ist, deren Kinder zudem nicht auf eine Integrationsschule gehen, wäre die eine Sache, die zu hinterfragen wäre. Die andere ist die, dass einmal mehr wohlmeinende mediale Augenwischerei betrieben wird, um bestehenden (Image-)Problemen ihre lebensweltliche Schärfe zu nehmen. Nur zeigen Statistiken deutlich, dass häusliche Gewalt, und um die ging es in diesem Zusammenhang, zu einem signifikanten Teil ein Ausländerproblem ist: die Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Migrationshintergrund wird höher eingeschätzt als die von Schweizerinnen, und bei den Tätern sind Männer mit Migrationshintergrund überproportional vertreten.


  • Gemäss Polizeidaten der Städte Zürich (Steiner 2004) und Biel (Petignat 2007) sind bei den Tätern rund 65% Ausländer und etwa 35% Schweizer (bei einem Ausländeranteil an der Bevölkerung von rund 28%!).
  • Dreimal mehr Mörder: Gemäss der Statistik des Bundesamtes für Statistik BFS zu Tötungsdelikten ist im Bereich häuslicher Beziehungen der Anteil der registrierten Tatverdächtigen unter der männlichen ausländischen Wohnbevölkerung in praktisch allen Altersgruppen deutlich höher als unter der Schweizer Wohnbevölkerung. Auf einen schweizerischen Tatverdächtigen kommen 3.1 ausländische (Zoder 2008).
  • Gemäss der Prävalenzstudie von Killias et al. 2004 erhöht statistisch betrachtet bei den Charakteristiken des Partners die nicht-schweizerische Nationalität das Risiko von Gewalt in der Beziehung.


(Quelle: Informationsblatt: Häusliche Gewalt im Migrationskontext, www.ebg.admin.ch/dokumentation/00012/00442/index.html?lang.)

Es muss einen bei dieser Faktenlage stutzig machen, dass die Autoren des Informationsblatts umgehend nach Darlegung der Studienergebnisse dazu übergehen, selbige kleinzureden, indem sie mit Nachdruck auf die (selbstevidente) Tatsache hinweisen, dass die Überrepräsentation von Ausländerinnen und Ausländern sowohl auf Täter- als auch auf Opferseite es nicht erlaube, Paargewalt lediglich als Problem gewisser Nationalitäten oder Kulturen zu erklären
"Ausländerinnen und Ausländer stellen nur eine unter weiteren Bevölkerungsgruppen mit erhöhter Prävalenz häuslicher Gewalt dar. Unterschiede können nicht allein durch den Faktor 'Staatsangehörigkeit' erklärt werden, sondern viel eher durch eine Konglomeration von anderen, z.B. sozioökonomischen Faktoren (prekäre Einkommens- oder beengende Wohnverhältnisse etc.) oder das Alter (unter jungen Menschen ist Paargewalt verbreiteter) erklärt werden. Das heisst, auch Schweizer und Schweizerinnen werden unter einer ähnlich hohen Belastung durch Risikofaktoren in vergleichbarem Masse gewalttätig."

Während hier zunächst der Eindruck entstehen soll, dass Schweizer Männer ebenso oft zuschlagen würden, wenn es beispielsweise schlecht um die Haushaltskasse bestellt wäre, wird an späterer Stelle auf die Rolle der Kultur als Faktor von häuslicher Gewalt eingegangen. Allerdings folgen auch hier auf die Benennung des Problems sogleich die gängigen (selbstevidenten) Beschwichtigungsfloskeln"Verschiedene Studien zeigen, dass kulturelle Aspekte wie gewaltbejahende und gewalttolerierende Normen, starre Rollenbilder mit stereotypen Werten von überlegener Männlichkeit und untergeordneter Weiblichkeit etc. das Risiko häuslicher Gewalt erhöhen. Kultur als alleinigen Grund für Gewalt zu nennen, entspricht der Komplexität von Gewaltsituationen jedoch nicht und lenkt von einer differenzierteren Betrachtung der Entstehungsbedingungen häuslicher Gewalt ab.“

Sehen wir uns die Zusammenfassung der Studienergebnisse noch einmal nüchtern an: 

  • Ausländerinnen laufen statistisch betrachtet stärker Gefahr, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden als Schweizerinnen.
  • Ausländer sind häufiger unter den Tätern zu finden als Schweizer. 
  • Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung von ca. 20 Prozent unterstreicht das überproportionale Auftreten von häuslicher Gewalt in bestimmten Migrantenkreisen zusätzlich.


Zur Erklärung der Überproportionalität wird eine Vielzahl von Faktoren herangezogen, darunter sozioökonomische, demografische und kulturelle. Deren Zweck ist aber offenbar nicht, das Problem klar zu umreissen. Vielmehr soll verbale Beschönigung betrieben werden, um die erwiesene Überproportionalität zuletzt hinter einer forcierten Verallgemeinerungen des Problems in den Hintergrund treten zu lassen.

Cui bono, fragt man sich da einmal mehr. 

Freitag, 19. August 2011

Vom Hecheln und Schwitzen - Charlotte Roche

Nachdem nun auch die seriösen publizistischen Denkstuben nicht darum herum gekommen sind, auf den Hype um die Veröffentlichung „Schossgebete“ der Skandalautorin Charlotte Roche einzugehen, sollen auch hier einige Gedanken dazu skizziert werden.

Es war alles gefickt eingeschädelt vom Verlag Piper – grosse Verführungskunst: Im April wurde das Buch laut, lasziv und farbig angekündigt für den August. Wer es zu Rezensionszwecken orderte, musste sich aber gedulden bis wenige Tage vorm offiziellen Release-Termin am 10. August. Nichts, vor allem keine nüchternen Vorbesprechungen, sollte die grosse mediale Inszenierung der Niederkunft des Roche’schen Zweitlings beflecken. Wie bei ihrem  Ersten Mal („Feuchtgebiete“, 2009) sollte die Sexbeichte der jungen, zierlichen, verruchten Autorin wie eine Sexbombe im Leser- und Büchermarkt einschlagen.

Nun, das ist alles gelungen, Applaus, Applaus. Die Frage, die hier gestellt sei: Hat es sich gelohnt?


Glaubt man den Rezensenten: nein. Ohne das Buch angerührt zu haben scheint mir doch interessant was in den letzten beiden Wochen darüber geschrieben wurde. Die Reaktionen – von sarkastisch bis gelangweilt bis verärgert. Dass ein Hammer-Knüller-Erfolg eben selten ein zweitesmal genauso gelingt, kennen wir aus aus eigener (Bett-)Erfahrung. Und dass sich das Feuilleton verarscht vorkommt, ist verständlich. Schreibt die Frau doch zwar, wie bestellt, über Sex, seitenlang, aber geht es im Wesentlichen doch über ihre Ehe, ihre traumatischen Erlebnisse bei einem Autounfall und um ihre Psychotherapie. Zuviel Literatur, zuwenig Schund? 

Besonders hübsch die Weltwoche: stellt auf der Frontseite die Frage: „Können Frauen über Sex schreiben?“ Der Autor denkt aber nicht im Traum daran, diese Frage dann auch zu beantworten. Stattdessen liefert er eine Übersicht von den Anfängen der erotischen Literatur bis zu heute. Ist ja auch ganz nett.
Tatsache ist: erotische Literatur (auch. Erotik in der Literatur) war stets geprägt vom männlichen Blick auf die Frau. Die Frau als Sex-Objekt. Generationen von Literaturfreunden und –freundinnen haben das so gelesen und begriffen. Erst mit dem Feminismus änderte sich der Blickwinkel. Jellinek, Streeruwitz und andere – so die Weltwoche – begriffen die Frau als Opfer jener männlichen Fixierung und Sexualisierung, gegen die man sich auflehnen müsse.


Die jüngeren Sex-Autorinnen, ob sie nun Melissa Panarello, Helene Hegemann, Michele Roten oder eben Charlotte Roche heissen – scheinen sich nun jedenfalls keinen Deut um solche Fragen zu kümmern. „Mit erregter Vorfreude“ grinst die Roche jeden Abend im Bett. Über 15 Seiten stark sei die detailgetreue Beschreibung des ehelichen Geschlechtsverkehrs, kommentiert mit: „Beim Sex verändere ich komplett meine Persönlichkeit. Dann bin ich völlig frei. Mir ist nichts peinlich. Die Geilheit auf zwei Beinen. (..) Ich vergesse alle Pflichten und Probleme, bin nur mein Körper und nicht mein anstrengender Geist.“ Und was besonders ins Auge Falle: die uneingeschränkte Hingabe an den Mann - in der wahrsten Bedeutung des Wortes - ihn in allen Variationen verwöhnen wollen, genommen werden, ordentlich gefickt werden.

Mann kann von Roches ins Rampenlicht gezerrter Geilheit, von dieser besoffen wirkenden Sex-Sucht, von dieser lallend, hechelnd, mit zittrigen Lippen vorgetragenen Hingebungs-Gier halten was Mann will. Es hat eher etwas Bedürftiges. Eine Dienerin im Bett? Nun, als Fantasie, ja, oder im Bordell, aber in aller Regel liegt man ja da mit der Frau, die man liebt. Eine, die sich so hinwirft und wie ein Stück Fleisch von einem Metzger behandelt werden will – nicht sexy. Wo bleibt der Reiz der Eroberung, wo die Verführung, Geben und Nehmen? Welches andere Manko soll damit ausgeglichen werden? Was stimmt mit der nicht?

Jedenfalls scheint sich die Prädisosition der Autorin und der deskriptive Gehalt kaum von all der Pornoliteratur, der Schmuddelschreibe und der erotischen Träumereien zu unterscheiden, wie sie Jahrhunderte lang von Männern geschrieben, gemalt, gezeichnet, besungen und geflüstert wurde.

Das führt zur Frage: Gibt es überhaupt eine weibliche Art, über Sex zu schreiben? Und weiterführend: Gibt es eine weibliche Sexualität, die sich so grundlegend von der männlichen Perspektive (Frau als Objekt) unterscheidet? Gibt es weibliche Sexualität über das mit Lustgewinn verbundene Selbstverständnis hinaus, ein Objekt des Mannes zu sein, ihm zu gefallen und genau darin (und durch ihn) sexuelle Erfüllung zu erfahren?

Mein Gedanke: nein, gibt es nicht. Weder in der Kunst noch im richtigen Leben. Es scheint dass Generationen von verschwitzten, lüsternen, alten Männern schreibend formuliert haben: Wir wollen euch nehmen, ihr Weiblein!. Und Roche antwortet ihnen: Und wir wollen nichts weiter als uns euch hingeben!. Ist das so? Eigentlich enttäuschend, nicht?

Dienstag, 16. August 2011

Trash-TV - eine Spurensuche


von Zoé


'Agenten fürs Asoziale' nennen sie sie: die Britts, Veras und Tines und ihre vielen kleinen fleissigen Helferlein, die Deutschlands Harz-IV-Landschaften durchkämmen auf stetiger Suche nach neuem Kanonenfutter für das nachmittägliche Trash-TV, das längst auch die besten abendlichen Sendeplätzen überwuchert hat.  

Was sie eigentlich machen, fragten sich letzte Woche der Spiegel und die Süddeutsche, vielleicht auch als indirekte Reaktion auf die Geschehnisse in England. Der Spiegel fand eine bissige Antwort:  

"Sie sind gekommen, um zu helfen. Und sie gehen nicht wieder weg. Im Gegenteil, sie machen sich immer breiter. (...) Überall laufen sie auf einmal auf, die beflissenen Helferinnen, die tätscheln, belehren, mahnen. Und manchmal zur Hatz blasen. Sie sind die Elends-Scouts des deutschen Fernsehens. Sie führen den Gaffer vor dem Fernsehgerät in Wohnungen, in denen sich der Müll türmt, sie führen ihnen Männer vor, deren einzige weibliche Bekanntschaft die eigene Mutter ist, und sie präsentieren Hartz-IV-Empfänger, die zu doof sind, das Geld einzusacken, das ihnen eigentlich zusteht. Vergiftete Nächstenliebe muss man sowas wohl nennen. Denn mit dem Argument, helfen zu wollen, sammeln die Fernsehfrauen bizarres Bildmaterial, an dem sich der Zuschauer weiden darf. Perfider war deutsches Privatfernsehen noch nie."
As seen on TV - Wohnung eines "Messies"

Die Bestandesaufnahme der Süddeutschen fiel etwas nüchterner aus. Womöglich deshalb, weil aus dem Alltag einer Castingagentin für Doku-Soaps berichtet wurde, die zwischenzeitlich ihren Job an den Nagel gehängt hat, da sie die unermüdliche Suche nach menschlichem Elend auf Dauer nicht aushielt. Sie hätte oft geweint, ist zu vernehmen. Dabei wirken die Namen der betreffenden Doku-Soaps, so die Süddeutsche, auf den ersten Blick so trügerisch harmlos:

"Sie heißen 'Schwiegertochter gesucht', 'Schwer verliebt', 'Extrem schön' oder 'Mietprellern auf der Spur'. Sie locken Tag für Tag Millionen Deutsche vor den Fernseher und bescheren den privaten Fernsehsendern dank billig produzierter Sendeminuten traumhafte Renditen. Doch die sogenannten Doku-Soaps mit ihren Spielarten wie Entertaining Reality oder Scripted Reality haben einen unstillbaren Durst an unverbrauchten Gesichtern mit unglaublichen Geschichten."

Was man über die Methoden der Produktionsfirmen zur Gewinnung dieser immer neuen, unverbrauchten Gesichter erfährt, ist erschreckend: freiwillige Bewerber werden mit detaillierten Fragebögen gesiebt, um an diejenigen unter ihnen zu gelangen, mit denen es das Schicksal besonders schlecht gemeint hat. Fällt der Bewerberansturm dürftig aus, wird aktiv gecasted, will heissen: der Agent macht sich auf die Jagd. Stösst er dabei auf einen geeigneten Kandidaten, heftet er sich ihm solange an die Fersen, bis dieser idealerweise entnervt einknickt und sein Leben auf dem medialen Präsentierteller angerichtet werden kann. Mit ganz grosser Kelle, versteht sich, und für ein Publikum, dass täglich mit neuen Schreckensszenarios aus den verworfensten sozialen Verhältnissen abgespeist werden will. 


Es sind, wie ich vermute, ähnliche Milieus, aus denen Englands krawallmachende Jugend stammt. Und zumindest bei diesem Spektakel haben wir alle gebannt zugeschaut. Ich werde mir heute abend wieder einreden, dass ich im Grunde genommen Ursachenforschung betreibe, wenn ich mir die nächste Folge der englischen Serie 'Skins' reinziehe, die das Porträt einer ziemlich verwirrten, orientierungslosen Jugend zeichnet. Noch bin bei der ersten Staffel, es gibt deren vier, also habe ich einiges an Analysearbeit vor mir. Die Fernsehkritiken waren sich anfangs nicht darüber einig, wie realitätsnah das fiktive Geschehen ist. Zwischenzeitlich wurde die Wirklichkeit von der Fiktion eingeholt: so hat sich im britischen Sprachgebrauch der Begriff Skins-Party fest eingebürgert, nachdem 2007 ein Mädchen auf seiner Myspace-Seite dazu aufrief, einem 'durchschnittlichen' Familienhaus mit wüsten Feierlichkeiten den Garaus zu machen - nach Vorbild einer Serienfolge. Der damalige Schaden betrug 30.000 Euro. Der Schaden nach dem Abzug der kriminellen Jugendbanden aus den englischen Städten ist noch nicht beziffert. 

Eines weiss ich jetzt schon: das Faszinosum des Abstossenden wird mich zuhause im sicheren Fernsehsessel auch bei der nächsten Episode bisweilen wohlig erschauern lassen. Und ich werde mir dessen bewusst sein, dass ich in dieser Hinsicht den Zuschauern von Trash-TV in nichts nachstehe, obschon 'Skins' mit diversen Fernseh-Auszeichnungen geadelt wurde. Immerhin, so flüstert mir mein ansatzweise beruhigtes Gewissen ein, schaust Du nicht Vera Int-Veen dabei zu, wie sie Wohnungen vorführt, die so aussehen, als wären sie durch einen biblischen Schädlingsbefall verwüstet worden. Wobei: soviel anders ging es in dieser einen 'Skins'-Folge auch nicht zu. Allein die Stimme der Moderatorin als leidenschaftliche 'Kammerjägerin' asozialer 'Mietratten' (O-Ton Spiegel) fehlte. 

Mittwoch, 10. August 2011

The London Riots 2011 - Paradise Lost

"Die Wut der verlorenen Generation" titelt der Tagesanzeiger. Ein "Aufstand der Frusrierten" registriert der Spiegel, ein "Aufruhr der Abgehängten" die Süddeutsche Zeitung. Ulf Poschardt ortet eine Renaissance des Jugendfrusts nicht nur in Tottenham und Hackney, sondern auch in Spanien und Griechenland. Nicht zu vergessen die Krawallnächte in den Banlieues von Paris vor zwei Jahren. Der Autor ruft den Ladenplünderern, Autoinbrandsetzern und Steinewerfern in der Welt Folgendes zu:

"Packt an, statt zu motzen und zu lamentieren!"


Tatsache ist, dass soeben gegen 40 Jahre Irrtum in Flammen aufgehen: der Multi-Kulti-Traum der europäischen Linken und die Absolutsetzung sozialstaatlicher Regulierung, der Denkfehler, der Gesellschaften nicht als gewachsene Entitäten begreift, sondern als Gefässe, die eine bestimmte Ideologie zum Erblühen bringen sollen. Dass freie Gesellschaften von selber offen sind und Neues aufnehmen und Fremdes integrieren, das hat die Linke stets ignoriert; in ihrem Bestreben eine "gerechtere Welt" mit besseren Menschen darin zu erschaffen, haben sie die Gesellschaften in Geiselhaft genommen und als Experimentierfeld missbraucht. In grenzenlosem Hass auf die eigene Kultur, auf die Traditionen und Institutionen des europäischen Westens und in Verachtung der freien Marktwirtschaft hat man Jahrzehntelang die eigenen Völker gemästet und Millionen Menschen aus der Dritten Welt in die Grossstädte gespühlt. 

Nun, das Experiment ging gründlich in die Hose.

Kaum zu glauben, dass noch vor Kurzem Grossbritannien als Beispiel einer funktionierenden multikulurellen Gesellschaft angeführt wurde. Dabei herrschen in Stadtvierteln Birminghams längst Sharia und der Koran und die Krawalle der "frustrierten Jugendlichen" zeigen eines deutlich: wo eine ganze Generation mit der Idee aufwächst, dass die Gesellschaft ihr etwas schuldet, ohne dass sie selber etwas dazu leisten muss, entweder einen lockeren Job oder dann Sozialgeld bitteschön - dort hat der Sozialismus abermals versagt und können Probleme nicht mehr mit Geld überdeckt werden.

August '11 - Götterdämmerung der europäischen Linken.

Montag, 1. August 2011

720 Jahre - Herzlichen Glückwunsch


Schweizerische Eidgenossenschaft
Republikanischer Bundesstaat
Wahlspruch: "Unus pro omnibus, omnes pro uno"
Gründungsjahr 1291
Unabhängigkeit 1648, Bundesstaat seit 1848
Fläche: 41'285 km²
Einwohner: 7,639,961
(davon ca. 1,8 Mio. ausländische Mitbürger
)
Sprachen:
Deutsch 63,7%
Französisch 20,4%
Italienisch 6,5%
Serbokroatisch 1,5%
Albanisch 1,3%
Portugiesisch 1,2%
Spanisch 1,1 %
Englisch 1,0%
Rumantsch 0,5%
andere 6%
Religion:
Römisch-Katholisch 41.8%
Protestantisch 35.3%
Muslimisch 4.3%
andere 7,5%
Konfessionslos 11.1%
BIP (per capita) 67'560 $ (Rang 4 weltweit)
Wachstum ca. 2,4 %
Human Development Index 0,874 (Rang 13 weltweit)
Arbeitslosigkeit 3,9%

Freitag, 29. Juli 2011

Europe In The Making - eine Replik

von Zoé

"Die Europa-Versager - Kaum ein Politiker mag noch die europäische Idee verteidigen" (ZEIT online, 20.7.2011): diese Schlagzeile fand sich so oder in abgewandelter Form in zahlreichen Ausgaben deutscher Tages- und Wochenblätter der letzten Woche. Von einer Grundsatzdebatte war die Rede, in deren Rahmen weit über die Frage der griechischen Schuldenkrise hinaus die Richtung des gesamten europäischen Projekts neu ausgehandelt werden müsse. Die Alternativen:  eine Vertiefung der Beziehungen oder das Eingeständnis, dass die EU nicht mehr steuerbar sei. 


Und dann kam der 22. Juli 2011, und mit ihm Anders Behring Breivik. Auf einen minuziös geplanten Massenmord folgte dessen nicht weniger umsichtig in Wege geleitete ideologische Begründung in Gestalt eines "2083- A European Declaration of Independance" betitelten Manifests. Für den Killer Breivik, so ist seinen eigenen Worten zu entnehmen, gehören Manifest und Tat untrennbar zusammen, nicht zuletzt weil ersterem die Funktion zukommt, ihn von jeglicher Schuld reinzuwaschen. Die Welt sei eben so, wie er sie sehe, und damit sei unter anderem das gezielte Abknallen von Kindern und Jugendlichen gerechtfertigt. Doch auch auf einer weiteren Ebene sind Manifest und Tat intrinsisch miteinander verbunden: wenn sie nicht gemeinsam an die Öffentlichkeit gelangt wären, wäre ihre Einzelwirkung in Breiviks Augen ungleich geringer ausgefallen. Sie sind demnach Bestandteil eines ausgefeilten, wenngleich zutiefst kranken Marketings in eigener Sache, wobei die Verbreitung von Breiviks Gedanken im Grunde eine "Verlängerung des Terroraktes" an sich darstellt (Süddeutsche, 28.7.2011). Ein Terrorakt, vorgetragen in Form einer europäischen Unabhängigkeitsdeklaration. 

Doch was für eine europäische Unabhängigkeit hat Breivik eigentlich vor Augen? Jedenfalls nicht die Staatengemeinschaft der EU, denn diese macht er für die Anzettelung eines europa-internen Krieges verantwortlich. Hierfür skizziert Breivik eine geheime Verschwörung von Frankreich und anderen 'grossen' Ländern, deren Ziel es sei, eine Allianz mit dem Islam zu schaffen. Dagegen hätten sich die konservativen Nationalisten Europas mit einer Vertreibung aller muslimischen Einwanderer zur Wehr zu setzen. Sein Ansatzpunkt des ethnisch argumentierenden Nationalisten - wie soll er mit dem Europagedanken aufgehen? Kein Problem für den vielseitigen Breivik: obwohl er gemäss Eigendarstellung nicht an den christlichen Gott glaubt, sieht er im kulturellen Element des Christentums eine europaüberspannende Klammer. Aber wie schon bei der Novalisrede stellt sich die Frage, ob diese Klammer am Ende genug Spannkraft besitzt.  


Wenn der derzeitige Stand verschiedener Europa-Diskussionen eins zutage fördert, dann dies, dass es gegenwärtig weder in den Köpfen, noch auf dem Papier ein geeintes Europa gibt  - und auch nie gegeben hat. Und dass es erst noch einer politischen wie ideellen Anstrengung bedarf, wollte man einer eher ablehnend eingestellten europäischen Bevölkerung die Idee wirklich schmackhaft machen. Im Vorwort zur Erstausgabe einer Buchreihe unter dem programmatischen Titel 'The Making of Europe' brachte der renommierte französische Historiker Jacques Le Goff 1995 dazu folgende basale Überlegungen aufs Papier:

Jacques Le Goff (* 1924)
"Europe is in the making. This is both a great challenge and one that can be met only by taking the past into account - a Europe without history would be orphaned and unhappy. Yesterday conditions today; today's actions will be felt tomorrow. The memory of the past should not paralyse the present: when based on understanding it can help us to forge new friendships, and guide us towards progress. Europe is bordered by the Atlantic, Asia and Africa, its history and geography inextricably entwined, and its past comprehensible only within the context of the world at large. The territory retains the name given by the ancient Greeks, and the roots of its heritage may be traced far into prehistory. It is on this foundation - rich and creative, united yet diverse - that Europe's future will be built.

(...) In their efforts to achieve accord and unity the nations of Europe have faced discord, division and conflict. It is no purpose of this series to conceal these problems: those commited to the European enterprise will not succeed if their view of the future is unencumbered by an understanding of the past. The title of the series is thus an active one: the time is yet to come when a synthetic history of Europe will be possible. The books we shall publish will be the work of leading historians, by no means all European. They will address crucial aspects of European history in every field - political, economical, social, religious and cultural. (...) Our aim is to consider the key questions confronting those involved in Europe's making, and at the same time to satisfy the curiosity of the world at large: in short, who are the Europeans? where have they come from? whither are they bound?"
Ob eine funktionierende EU die einzige Möglichkeit darstellt, in absehbarer Zukunft so etwas eine einheitliche europäische Identität zu generieren respektive den beteiligten Ländern in globaler Perspektive langfristig Handlungsmacht zu sichern, wird sich erst noch zeigen. Angesichts der heutigen Ausgangslage besteht sicherlich Grund zum Zweifel. Unabhängig davon sollten wir uns alle jedoch die Grundsatzfrage stellen, wie wir uns selbst als Europäer verstehen und wie unser Europa aussehen soll. Ansonsten könnte es  durchaus geschehen, dass Breivik und seine Sympanthisanten uns über kurz oder lang ihre Vorstellung davon aufzwingen.