Freitag, 29. Juli 2011

Europe In The Making - eine Replik

von Zoé

"Die Europa-Versager - Kaum ein Politiker mag noch die europäische Idee verteidigen" (ZEIT online, 20.7.2011): diese Schlagzeile fand sich so oder in abgewandelter Form in zahlreichen Ausgaben deutscher Tages- und Wochenblätter der letzten Woche. Von einer Grundsatzdebatte war die Rede, in deren Rahmen weit über die Frage der griechischen Schuldenkrise hinaus die Richtung des gesamten europäischen Projekts neu ausgehandelt werden müsse. Die Alternativen:  eine Vertiefung der Beziehungen oder das Eingeständnis, dass die EU nicht mehr steuerbar sei. 


Und dann kam der 22. Juli 2011, und mit ihm Anders Behring Breivik. Auf einen minuziös geplanten Massenmord folgte dessen nicht weniger umsichtig in Wege geleitete ideologische Begründung in Gestalt eines "2083- A European Declaration of Independance" betitelten Manifests. Für den Killer Breivik, so ist seinen eigenen Worten zu entnehmen, gehören Manifest und Tat untrennbar zusammen, nicht zuletzt weil ersterem die Funktion zukommt, ihn von jeglicher Schuld reinzuwaschen. Die Welt sei eben so, wie er sie sehe, und damit sei unter anderem das gezielte Abknallen von Kindern und Jugendlichen gerechtfertigt. Doch auch auf einer weiteren Ebene sind Manifest und Tat intrinsisch miteinander verbunden: wenn sie nicht gemeinsam an die Öffentlichkeit gelangt wären, wäre ihre Einzelwirkung in Breiviks Augen ungleich geringer ausgefallen. Sie sind demnach Bestandteil eines ausgefeilten, wenngleich zutiefst kranken Marketings in eigener Sache, wobei die Verbreitung von Breiviks Gedanken im Grunde eine "Verlängerung des Terroraktes" an sich darstellt (Süddeutsche, 28.7.2011). Ein Terrorakt, vorgetragen in Form einer europäischen Unabhängigkeitsdeklaration. 

Doch was für eine europäische Unabhängigkeit hat Breivik eigentlich vor Augen? Jedenfalls nicht die Staatengemeinschaft der EU, denn diese macht er für die Anzettelung eines europa-internen Krieges verantwortlich. Hierfür skizziert Breivik eine geheime Verschwörung von Frankreich und anderen 'grossen' Ländern, deren Ziel es sei, eine Allianz mit dem Islam zu schaffen. Dagegen hätten sich die konservativen Nationalisten Europas mit einer Vertreibung aller muslimischen Einwanderer zur Wehr zu setzen. Sein Ansatzpunkt des ethnisch argumentierenden Nationalisten - wie soll er mit dem Europagedanken aufgehen? Kein Problem für den vielseitigen Breivik: obwohl er gemäss Eigendarstellung nicht an den christlichen Gott glaubt, sieht er im kulturellen Element des Christentums eine europaüberspannende Klammer. Aber wie schon bei der Novalisrede stellt sich die Frage, ob diese Klammer am Ende genug Spannkraft besitzt.  


Wenn der derzeitige Stand verschiedener Europa-Diskussionen eins zutage fördert, dann dies, dass es gegenwärtig weder in den Köpfen, noch auf dem Papier ein geeintes Europa gibt  - und auch nie gegeben hat. Und dass es erst noch einer politischen wie ideellen Anstrengung bedarf, wollte man einer eher ablehnend eingestellten europäischen Bevölkerung die Idee wirklich schmackhaft machen. Im Vorwort zur Erstausgabe einer Buchreihe unter dem programmatischen Titel 'The Making of Europe' brachte der renommierte französische Historiker Jacques Le Goff 1995 dazu folgende basale Überlegungen aufs Papier:

Jacques Le Goff (* 1924)
"Europe is in the making. This is both a great challenge and one that can be met only by taking the past into account - a Europe without history would be orphaned and unhappy. Yesterday conditions today; today's actions will be felt tomorrow. The memory of the past should not paralyse the present: when based on understanding it can help us to forge new friendships, and guide us towards progress. Europe is bordered by the Atlantic, Asia and Africa, its history and geography inextricably entwined, and its past comprehensible only within the context of the world at large. The territory retains the name given by the ancient Greeks, and the roots of its heritage may be traced far into prehistory. It is on this foundation - rich and creative, united yet diverse - that Europe's future will be built.

(...) In their efforts to achieve accord and unity the nations of Europe have faced discord, division and conflict. It is no purpose of this series to conceal these problems: those commited to the European enterprise will not succeed if their view of the future is unencumbered by an understanding of the past. The title of the series is thus an active one: the time is yet to come when a synthetic history of Europe will be possible. The books we shall publish will be the work of leading historians, by no means all European. They will address crucial aspects of European history in every field - political, economical, social, religious and cultural. (...) Our aim is to consider the key questions confronting those involved in Europe's making, and at the same time to satisfy the curiosity of the world at large: in short, who are the Europeans? where have they come from? whither are they bound?"
Ob eine funktionierende EU die einzige Möglichkeit darstellt, in absehbarer Zukunft so etwas eine einheitliche europäische Identität zu generieren respektive den beteiligten Ländern in globaler Perspektive langfristig Handlungsmacht zu sichern, wird sich erst noch zeigen. Angesichts der heutigen Ausgangslage besteht sicherlich Grund zum Zweifel. Unabhängig davon sollten wir uns alle jedoch die Grundsatzfrage stellen, wie wir uns selbst als Europäer verstehen und wie unser Europa aussehen soll. Ansonsten könnte es  durchaus geschehen, dass Breivik und seine Sympanthisanten uns über kurz oder lang ihre Vorstellung davon aufzwingen.

Dienstag, 26. Juli 2011

Norwegen - "Sag mir was du liest und ich sage dir wer du bist"?

Nach dem Amoklauf in Norwegen quillen die heimischen und besonders die deutschen Diskussionsforen über vor munkelnden Schuldzuweisungen und giftigen Attacken gegen echte und vermeintliche „Islamkritiker“, „christliche Fundamentalisten“ und „rechtpopulistische“ Kreise, Parteien und Exponenten. Diese trügen eine Mitschuld an dem grausamen Massenmorden des Anders B. Breivik von Oslo und Utroya. Auf gewisse Weise, im Schock über das Geschehen, ist dies vielleicht verständlich, aber trotz allem ist es komplett fehlgeleitet und unfair!


Dieser Blog verurteilt aufs schärfste jede Art von terroristischer Gewalt und spricht sich dezidiert gegen extremistische Spielarten aller Denkschulen aus - sei es von Links oder von Rechts. Dieser Blog steht für die Kultur des Diskurses, der freien Meinungsäusserung und der Kraft guter Argumente. Wir verneigen uns vor dem norwegischen Volk, das in diesen schweren Tagen die schwierige Aufgabe hat, trotz aller Trauer und Wut die Werte der Demokratie, der freien, offenen Gesellschaft und der Menschlichkeit hochzuhalten.

May God be with Norway!

Einer der im Manifest "Europa 2083" des Anders B. Breivik namentlich genannt wird, ist der deutsch-polnische jüdische Publzist Henryk M. Broder. Broder setzt sich jetzt in der deutschen Zeitung Die Welt mit folgenden Zeilen gegen die pauschale und fiese Hetze gegen ihn als angeblichen „geistige Mittäter“ eines der schlimmsten Massenmordes der neueren Geschichte zur Wehr:


von Henryk M. Broder


Das also ist eine Kausalkette: Vor etwa fünf Jahren habe ich einer holländischen Zeitung ein Interview gegeben, in dem ich sagte, wenn ich jünger wäre, würde ich Europa verlassen und in ein Land ziehen, das nicht von einer schleichenden Islamisierung bedroht wäre.Dieses Interview wurde von dem islamkritischen norwegischen Blogger „Fjordman“ in einem seiner Texte zitiert. Der „Fjordman“-Text („Islamisation and Cowardice in Scandinavia“) findet sich nun in voller Länge in dem „Manifest“ des Norwegers Breivik wieder, der bei zwei Anschlägen 76 Menschen ermordet hat. Und schon bin ich – mit anderen Gesinnungsgenossen und -genossinnen – für die Anschläge verantwortlich:„Wilders, Sarrazin und Broder mitsamt der Euterclique können stolz darauf sein, diese Brut mit ihrer ,Streitkultur' aufgezogen und gehätschelt zu haben, die im Namen der Freiheit, der christlich-demokratischen Nächstenliebe, alle ,Gutmenschen', Linke, Liberale und Muslime, die nicht mit dieser kranken Gedankenwelt d'accord sind, zur Zielscheibe manifestiert haben. Das, was in Oslo passierte, ist einzig auf das Konto dieser angestoßenen ,Schicksalsfrage' zuzuschreiben…“ – stellt Ercan Tekin auf der Seite „Turkishpress“ unter der Überschrift „Wilders, Sarrazin, Broder – geistige Brandstifter?“ fest, wobei das Fragezeichen eine eher rhetorische Funktion hat.Mit der „Euterclique“ sind Seyran Ates, Necla Kelek, Güner Balci, Cigdem Toprak und andere Journalistinnen gemeint, die dem Mitarbeiter von „Turkishpress“ dermaßen zuwider sind, dass er sich nicht dazu überwinden kann, sie beim Namen zu nennen.
„Intoleranz, Hass – und nun sogar Massenmord“
Etwas feiner, aber nicht weniger deutlich formuliert es Patrick Gensing auf der Homepage von tagesschau.de. „Der Kampf der Rechtsradikalen für mehr Freiheit“ sei ins „Gegenteil“ umgeschlagen, die „Konsequenzen“ seien „Intoleranz, Hass – und nun sogar Massenmord“.Er rundet seine Analyse mit dem Rat ab: „Vielleicht gibt das bürgerlichen Kreisen in Deutschland, die gerne mit vermeintlichen Tabubrüchen kokettieren, auch endlich zu denken.“ Gensing schmeißt nicht nur „Rechtsradikale“ und „bürgerliche Kreise“ in einen Topf, er wirft beiden das Gleiche vor: mit „Tabubrüchen“ dem Massenmord den Weg geebnet zu haben.Das ist so logisch und überzeugend, als würde jemand Kannibalen und Veganer gleichzeitig für den Niedergang der Esskultur verantwortlich machen.Dennoch habe ich für diese Art der Argumentation ein gewisses Verständnis. Die Tat des Norwegers ist dermaßen ungeheuerlich, so abseitig und unbegreiflich, dass man versucht ist, irgendeine Erklärung für sie zu finden, um nicht selber irre zu werden.
Spaß am Töten?
Wer Lebensmittel im Supermarkt klaut, der hat Hunger, wer nachts Autos abfackelt, der hat was gegen Reiche, wer ein Kind missbraucht, der hatte selbst eine schwere Kindheit. Was aber hat einer, der als Polizist verkleidet Kinder und Jugendliche wie herumfliegende Tonscheiben abknallt? Wie wäre es damit: Spaß am Töten?Das freilich ist in einer Gesellschaft, in der alles – vom Alkoholismus bis zum Klimawandel – rational erklärt und belegt werden muss, kein zulässiges Argument. Die Verrückten sitzen im „Big Brother“-Container oder bekriegen sich im „Dschungelcamp“, draußen laufen nur vernunftgesteuerte Menschen herum, die genau wissen, wo es derzeit die besten Sonderangebote gibt.Und wenn sie sich dennoch verlaufen und abstürzen, tritt die Ursachenforschung in Aktion. Ja, hätte man Hitler damals an der Kunstakademie angenommen, wäre er nicht in die Politik gegangen, wäre der Zweite Weltkrieg ausgefallen, würde Wroclaw noch immer Breslau heißen.Und hätte der blonde und blauäugige Norweger nicht Broder und Sarrazingelesen, sondern Patrick Bahners und Roger Willemsen, wäre er nicht zum Massenmörder geworden.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus
Ich weiß, ich vereinfache, ich versuche nur, mit der Gegenseite Schritt zu halten, die mit einer Schamlosigkeit sondergleichen versucht, sich einen moralischen Vorsprung zu verschaffen, indem sie die Verantwortung für einen Massenmord „Islamkritikern“ von Ates bis Sarrazin, von Broder bis Wilders in die Schuhe zu schieben versucht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus
Breivik ist ein Monster in Menschengestalt, dumm ist er nicht. Er hat seine Tat sorgfältig vorbereitet. Dazu gehört auch jenes „Manifest“, in dem außer mir auch andere bekannte „Islamkritiker“ wie Richard Rorty, Immanuel Kant undFranz Kafka erwähnt werden.Breivik wusste, dass er seine Tat „rational“ begründen muss. Und das hat er nicht bei mir und Thilo Sarrazin gelernt, sondern bei Mohammed Atta und Osama Bin Laden, bei den Attentätern von Madrid, London, Mumbai, Bali; bei Carlos, dem Schakal, und den „Märtyrern“, die ein Video aufnehmen, bevor sie ins Paradies aufbrechen.Und wann immer ein Terroranschlag passiert war oder im Ansatz vereitelt wurde, von den Semiprofis der Hamburger Zelle bis zu den Amateuren der Sauerland-Gruppe, eilten sofort Experten an den Tatort, das heißt in die nächste Ausgabe der „Tagesschau“, um die Mutter aller Fragen in den Raum zu stellen: Wie verzweifelt müssen Menschen sein, die so etwas tun?
Suche nach mildernden Umständen
Diese Frage war immer der Auftakt zu der Suche nach mildernden Umständen. In einer der ersten Stellungnahmen zu „9/11“ räsonierte Günter Grass darüber, welche Schuld „wir“ daran haben, dass „sie“ uns so hassen müssen.
Nach dem Mord an Theo van Gogh mochte sich kein Kommentator den Hinweis verkneifen, der holländische Filmemacher habe viele Muslime „beleidigt“; wie später der dänische Zeichner Kurt Westergaard, der seinen Beinahe-Mörder mit einer Mohammed-Karikatur herausgefordert hatte.Breivik hat das alles mitbekommen. Gut möglich, dass er sich gedacht hat: „Was die können, das kann ich auch.“ Und hätte er sich als Ziel nicht ein Ferienlager der Sozialistischen Jugend ausgesucht, sondern eine amerikanische Einrichtung oder eine israelische Sportlergruppe, wären die Differenzierer und Versteher wieder unterwegs: Schrecklich, diese Tat, aber…Auf Wikipedia findet man eine Liste der „suicide bombings“ im Irak im Jahre 2010. Es sind Dutzende von Anschlägen mit Hunderten von Toten. Ich kann mich an keinen einzigen Bericht erinnern, in dem die Frage gestellt worden wäre, was die Terroristen gelesen hatten, welche Art von Lektüre sie zu ihren Taten animiert hatte.
John Stuart Mill raus aus den Regalen!
„Die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon? Oder die Biografie von Alfred Nobel? Denn sie hatten, anders als der Norweger, kein „Manifest“hinterlassen, gespickt mit Literaturhinweisen.Breivik hat auf seinem Twitter-Account ein Zitat des englischen Philosophen J.S. Mill (1806–1873) gepostet: „Ein Einziger mit seinem Glauben wiegt 100000 andere auf, die nur Interessen haben.“Von Mill stammt auch der Satz: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein.“ Höchste Zeit, die Werke von John Stuart Mill („On Liberty“) von den Regalen zu nehmen und sie durch die Arbeiten von Richard David Precht („Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?”) zu ersetzen.

Mittwoch, 20. Juli 2011

Novalis' Europarede (1/3)

Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. –
Georg von Herdenberg v/o Novalis
Mit diesen Worten hebt im Jahre 1799 der frühromantische Dichter und Philosoph Novalis (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, 1772-1801) zu seiner Rede „Die Christenheit oder Europa“ an. Die Fragment gebliebene Rede stellt einen Beitrag zur Diskussion über die Zukunft des europäischen Kontinents dar. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Französische Revolution keine 10 Jahre alt war und das Abendland insgesamt an einem wichtigen Wendepunkt zu stehen schien.

Unser Blog bringt die reichhaltige Europa-Rede Novalis’ in drei Folgen und stellt sie zur Diskussion.

Europa am Wendepunkt – das könnte über unsere Zeit auch gesagt werden. Wieso lohnt sich deshalb die Lektüre eines über 200 Jahre alten Texts und was können wir daraus lernen?
  • Das Nachkriegseuropa mit seinen Institutionen und seine seit dem Ende des Kalten Krieges dramatisch beschleunigten wirtschaftlich-politischen Integration und Wachstum erlebt gegenwärtig seine schwerste Krise mit der gemeinsamen Währung
  • In Zeiten der Krise werden Mängel sichtbar: Eine geistige Einheit der Union fehlt weitgehend, allzu stark wurde die Einigung auf einer rational-ökonomischen und suprastaatlich-institutionellen Ebene vorangetrieben; eine Verfassung fehlt, die Bürger tragen die Union nicht „von unten“ her mit
  • Europa ist als ein politisch-wirtschaftliches Friedensreich weitgehend realisiert, hingegen ist die Frage nach den Prämissen ungelöst, es fehlt weitgehend eine geistige Verfassung, eine Grundlage, was das Konstrukt auch so krisenanfällig macht
  • Novalis bezieht sich in seinem Text insbesondere auf die beiden damals zurückliegenden Jahrhunderte, er erläutert das Scheitern der Reformation und das Aufkeimen einer religionsfeindlichen Kultur im Gefolge der Aufklärung
  • Dem setzt er den vorreformatorischen Zustand Europas entgegen und verweist auf eine neue bessere goldene Zeit, die kommen kann
  • Es kam, wie wir Nachgeborenen wissen, nur noch schlimmer. Wie würde Novalis wohl seine Rede formulieren, wenn er sie heute hielte?

Die konzentrierte Einheit der mittelalterlichen Welt, die durch den christlichen Glauben bewirkt wurde – sie stellt für Novalis den idealen Urzustand der abendländischen Zivilisation dar. Die „mächtige, friedensstiftende Gesellschaft“, sie stellt eine Blütezeit dar (was erwiesenermassen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und spirituellen Lebens Gültigkeit hat). Rom als neues Jerusalem mit dieser Ausrichtung auf den Heiligen Stuhl Petri hin, vor dem selbst Kaiser und Könige knien mussten.
Er nennt ganz klar die Einheit der Kirche, die Liebe zu ihr, die Heiligenverehrung und die Wallfahrten („seelischer Frieden“!), die Konzilien etc. als entscheidende Konstitution. Sogar in der päpstlichen Unfehlbarkeit sieht (der Protestant!) Novalis einen Vorteil:
Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche, frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen, im Gebiete des Wissens. So wehrte er den kühnen Denkern öffentlich zu behaupten, daß die Erde ein unbedeutender Wandelstern sey, denn er wußte wohl, daß die Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und ihr irdisches Vaterland, auch die Achtung vor der himmlischen Heimath und ihrem Geschlecht verlieren, und das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorziehn und sich gewöhnen würden alles Große und Wunderwürdige zu verachten, und als todte Gesetzwirkung zu betrachten.
Szene in einer mittelalterlichen Stadt (Breughel?)
In diesem goldenen Mittelalter sei das Weltliche und das Geistliche miteinander in Einklang gebracht worden, die Welt ein Friedensreich, vom heiligen Geist beseelt und von Poesie und Glauben erfüllt. Damit wendet er sich gegen das seit der Aufklärung vorherrschende Mittelalterbild, das darin nur das „dunkle Zeitalter“ sieht, und ein barbarisches obendrein.

Aber die Menschheit war noch nicht reif.
Vernichtet kann jener unsterbliche Sinn nicht werden, aber getrübt, gelähmt, von andern Sinnen verdrängt. – Eine längere Gemeinschaft der Menschen vermindert die Neigungen, den Glauben an ihr Geschlecht, und gewöhnt sie ihr ganzes Dichten und Trachten, den Mitteln des Wohlbefindens allein zuzuwenden, die Bedürfnisse und die Künste ihrer Befriedigung werden verwickelter, der habsüchtige Mensch hat, so viel Zeit nöthig sich mit ihnen bekannt zu machen und Fertigkeiten in ihnen sich zu erwerben, daß keine Zeit zum stillen Sammeln des Gemüths, zur aufmerksamen Betrachtung der innern Welt übrig bleibt. – In Collisions-Fällen scheint ihm das gegenwärtige Interesse näher zu liegen, und so fällt die schöne Blüte seiner Jugend, Glauben und Liebe ab, und macht den derbern Früchten, Wissen und Haben Platz. Man gedenkt des Frühlings im Spätherbst, wie eines kindischen Traums und hofft mit kindischer Einfalt, die vollen Speicher sollen auf immer aushalten.
Bemerkenswert: Glauben und Liebe werden die Begriffe Wissen und Haben entgegengesetzt. Den Lauf, den die Welt im Hochmittelalter nahm, ist kein guter. Und Schuld trifft auch die Kapitäne in diesem Meer, die Geistlichkeit:
In der Vergesslichkeit ihres eigentlichen Amtes, die Ersten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung zu sein, waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewachsen und die Gemeinheit und Niedrigkeit ihrer Denkungsart wurde durch ihre Kleidung und ihren Beruf noch widerlicher.
Notre Dame (errichtet 1163 bis 1345)

Novalis sagt unumwunden: Die Protestanten kamen zu Recht.
Aber mit der Reformation war's um die Christenheit gethan. (...) Sie trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war 
Und an dieser Stelle legt Novalis sein Geschichtsverständnis in wunderschönen Worten dar:  
Überdem haben wir ja mit Zeiten und Perioden zu thun, und ist diesen eine Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen nicht wesentlich? und ist diesen eine beschränkte Dauer nicht eigenthümlich, ein Wachsthum und ein Abnehmen nicht ihre Natur? aber auch eine Auferstehung, eine Verjüngung, in neuer, tüchtiger Gestalt, nicht auch von ihnen mit Gewißheit zu erwarten? fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen sind der Stoff der Geschichte. – Was jetzt nicht die Vollendung erreicht, wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen, oder bei einem abermaligen; vergänglich ist nichts was die Geschichte ergriff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Gestalten erneuet wieder hervor.
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Lesen Sie demnächst:
Warum führte die Reformation in die Irre? Wieso bewirkt die Aufklärung genau ihr Gegenteil? Und wie sieht Novalis die geläuterte Christenheit als Träger einer friedlichen Weltgemeinschaft, in der nicht Ehrfurcht und Gehorsam, sondern Freiheit in der Religion ein neues goldenes Zeitalter einläutet?

Mittwoch, 13. Juli 2011

Die neue Freizügigkeit der Freisinnigen


 von mila
 "Aufstand der Verzweifelten", titelte der Tagesanzeiger. Die FDP, so wird vermeldet, sei in den letzten Tagen mehrfach durch anrüchige Aktionen einzelner Exponenten aufgefallen, von der Enthüllungsaktion der Generalsekretärin der FDP-Frauen, Claudine Esseiva, bis hin zur Ankündigung des FDP-Nationalrates Filippo Leutenegger, auf den Herbst hin wieder zum journalistischen Kesseltreiber zu mutieren. 

Bereits ist von einer "Berlusconisierung der Schweizer Politik" die Rede, mittels derer der zwischenzeitlich abgestumpfte Parteiname auf Hochglanz poliert werden soll. 
Die Leuteneggersche Kampfansage beiseite genommen - war es allein die nackte Verzweiflung angesichts einer unentrinnbar anmutenden Wahlkampfniederlage, die die Generalsekretärin letzte Woche dazu veranlasst hat, sich vor den versammelten Voyeursaugen der Nation hüllenlos plakatieren zu lassen

Man ist versucht zu sagen: nein. Oder zumindest: das Problem zieht weitere Kreise, es fällt mit der scheinbar unaufhaltsamen Ausbreitung softpornografischer Ästhetik in der medialen Öffentlichkeit zusammen. Die Zeit benannte das Phänomen vor kurzem schlicht "Die nackte Gesellschaft".


Hätte Frau Esseiva den Artikel in der "Zeit" gelesen, sie hätte sich kaum auf das "sehr freizügige", nach NZZ-Lesart gar "gewagte" Unterfangen eingelassen. Iris Radisch, die Verfasserin, bringt es auf den Punkt: längst haftet derlei Nackedei-Einlagen nichts Gewagtes mehr an. Ärgerlich sei allenfalls, dass Frauen – in dem Glauben, sie seien nun endlich vom Sexobjekt zum Sexsubjekt aufgestiegen – im Akt des selbstinduzierten Aktes die triumphale Behauptung neuer weiblicher Souveränität erblickt haben wollen. Dass sie, indem sie sich nur allzu willig für das Fotoobjektiv ihrer Kleider entledigen, dabei womöglich weiterhin der "dominanten männlichen Verfügungsgeschichte über das nackte Frauenbild" in die Hände spielen, wird zur Nebensache oder wird gar nicht erst diskutiert. Radisch fasst es folgendermassen zusammen:


Iris Radisch
"(...) auch wenn die tapferen Softpornodarstellerinnen unbeschädigt oder sogar ehrenvoll davon kommen, hinterlassen sie einen ikonografischen Schaden in den Köpfen der Betrachter. Die trügerische Botschaft der emanzipierten und aufgeklärten Pornografie, dass weibliches Selbstbewusstsein und weibliche Unterwerfung unter männliche Körper- und Bildsprachen sich nicht länger ausschließen, ist vielleicht noch niederschmetternder als die alten Schmuddelbilder, die zwar furchtbar waren, aber den Vorzug der frauenfeindlichen Eindeutigkeit hatten. Die neue, sanfte und selbstbewusste Inszenierung von Nacktheit, die sich mit allen Erfordernissen der Frauenförderung scheinbar mühelos vereinen lässt, will allen nur Gutes. Ihr großer pornografischer Konsens gibt vor, dass es keine Ausgebeutete und keine Ausbeuter mehr gibt. In der erotischen Idylle, in der sich alle wohlfühlen, soll es keine Abgründe und keinen Hinterhalt mehr geben. Diese Idylle ist wie das Heidi-Klum-Universum (hallo, mora!) von allem Bösen, Schmutzigen und grob Frauenverachtenden gesäubert. Sie gleicht einem freundlichen Swingerclub der biopolitischen Vernunft, in dem niemand benachteiligt wird, der schön, fit und erfolgsbereit genug ist, um in ihm Aufnahme zu finden."  


Es macht es nicht besser, dass hierzulande anstelle deutscher Fussballerinnen männliche Politiker für einmal ihren weiblichen Kolleginnen vordemonstriert haben, wie man das entblösste Ich für politische Zwecke in Szene setzt - Girod 2007 im Kampf gegen Autoabgase, Schwitzguébel im Kampf für Waffen. Der schale Nachgeschmack bleibt dennoch, daneben die Erkenntnis, dass Esseivas Aktion allein dem Tages-Anzeiger nunmehr vier Berichte wert war. Ob es tatsächlich nötig ist, dass der Kommunikationsexperte Klaus J. Stölker der Tagi-Leserschaft erklärt, dass unsere Politiker "nackter, aber nicht intelligenter werden", sei dahingestellt. Hingegen stimmt es bedenklich, dass gemäss einer Zürcher Videoumfrage Frau Esseiva für ihren Mut "bewundert" wird, selbst wenn sich das Anliegen der Kampagne – Gleichberechtigung auf der Chefetage – dem durchschnittlichen Befragten offenbar nicht hinreichend erschliesst.  


Die Binsenwahrheit ‚sex sells’ als "Schwumm im Jungbrunnen" einer alternden Partei: sind das die politischen Botschaften, die wir uns wünschen? Warten wir bereits begierig auf die "nächste liberale Amazone, die sich auszieht"? 
Mir scheint, wir hätten als mündige Bürger dieses Landes Anständigeres, Handfesteres von unseren Vertreterinnen verdient. Schliesslich sind sie keine biopolitisch einwandfreien Ausgängerschilder für die dümmlichen Werbespots von Lätta. Dasselbe gilt selbstredend für ihre männlichen Pendants.

Samstag, 9. Juli 2011

Ein herzliches Willkommen

Nach Barspelunken und Blumengärten hier das entgültige Refugium.

Der Titel des neuen Lokals ist aus Johannes 8:32 entnommen: "So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen."

In Freiheit leben - uralte Sehnsucht von Christen und Nichtchristen. Stärker noch als die Sehnsucht, in Frieden zu leben. Kann man in Frieden leben, ohne frei zu sein? Ja. Kann man in Freiheit leben, ohne ein friedliches Auskommen zu haben (mit sich, mit der Welt, mit den Nächsten, mit der Welt)? Toleranz führe zum Frieden, wird seit der Aufklärung proklamiert. Nur, reicht das? Und wie weit darf diese Toleranz dann gehen, bis zur Selbstverleugnung, bis zur Relativierung aller Werte, bis zur Auflösung des Individuums?

Es kann keinen Frieden geben, der nicht vom freien Individuum ausgeht - Menschen ohne Orientierung, ohne Identität, Menschen, die nicht nach Sinn suchen und streben, sind keine freien Menschen. Unfreie Menschen sind manipulierbar, beherrschbar und überlassen das Denken und die Verantwortung für ihr Leben anderen Menschen, der Gesellschaft, dem Staat, übergeordneten Strukturen und Mächten. Und wessen Frieden herrscht dann auf Erden?
Darüber wird nachzudenken sein.

In Kürze folgen hier Pendenzen aus dem Botanikexperiment, das wir beenden mussten, weil durch einen peinlichen Fehler meinerseits genau jenes Publikum davon Wind bekommen hat, das wir eigentlich nicht dabeihaben wollten.

Im Übrigen gelten hier die gleichen Ansprüche an Qualität wie im gescheiterten Projekt. Aus naheliegenden Gründen verweise ich nicht mit Link von hier nach dort.

Wir freuen uns auf Ihre Wortmeldungen und heissen Sie herzlich willkommen!