Sonntag, 17. März 2013

Der Götze Staat (I): Leviathan


Richard Kempkens (via Achse des Guten)

Der moderne Leviathan hat aber längst alle möglichen, buntscheckigen Funktionen verschlungen, die das jahrhundertelange Metier der Religion gewesen sind und strebt weiterhin eifersüchtig wie der alte Jahwe danach, alles in allem zu werden. Der Staat tritt den Menschen als die Vernunft des falschen Ganzen entgegen, ist speziell in seiner deutschen Erscheinungsform Gott, Kaiser und Papst in einem, wird flehend angerufen und wütend beschimpft, in zahllosen Litaneien, Predigten und Bußgebeten, die man Feuilleton, Gedenkansprache oder talk show nennt, in Prozessionen und Pilgerfahrten eingeklagt, die man als Demonstrationen und Aktionstage bezeichnet (...). Es wird immerzu sein wahres, noch nicht realisiertes Wesen beschworen, seine linken und rechten Anbeter zeihen sich gegenseitig der Häresie. Immer wieder erschallt die Notwendigkeit seiner Allgegenwart, die Dringlichkeit jeder seiner Ausweitungen noch tiefer in jede Person, jedes Kollektiv, jeden Raum hinein.


Jedesmal, wenn Deutsche jenes öffentliche “wir” blöken, das Mantra des ideellen Gesamtkapitalisten, beugen sich alle Knie vor dem allumfassenden, allgegenwärtigen, unbegrenzbaren Riesen aus Menschenleibern. Was bleibt von unserer Rente? Warum sollen wir Griechenland helfen? Wie sollen wir unsere Kinder erziehen? Warum sind wir immer der Zahlmeister? Und was sollen wir bloß mit den Juden machen? 
Noch in jeder Debatte führen die Deutschen wortreich vor, wie tief sie Luthers Forderung nach dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen verinnerlicht haben, wie sehr sich jeder dem Gemeinwohl verschrieben hat. Ein deutsches Argument ist immer eines nach dem besseren, gerechteren, keine moralische Lücke, keinen rechtsfreien Raum mehr bietenden Staat, nach völliger Übereinstimmung zwischen dem Staatsbürger und der Person, die man eben zufällig ist und die mit ihren anarchischen Bedürfnissen und Sehnsüchten störend und irritierend aus der zugewiesenen Rolle fällt und sogar Ideologiekritiker mit ihrer brisanten Unmittelbarkeit nervös macht. 
Deutsche Selbstfindungsrunden sind eifriges und kollektives Dünnbrettbohren zur Realisierung des ideellen Souveräns. Der deutsche Staat ist der unerreichbare Fluchtpunkt aller Appelle zur Selbstveredelung, ein in die Ewigkeit projizierter Dombau mit dem reinen, abstrakten Dienst um des Dienstes willen als Allerheiligstes, und jede Diskussion über die mangelnde Übereinstimmung zwischen Begriff und Sache, Anspruch und Wirklichkeit des Staates oszilliert zwischen den linken, rechten, reaktionären oder liberalen Fraktionen, um das Ganze weiter dem in der Verwertung wütenden Nichts anzugleichen. 

“Wir” beten also mit und ohne Konfessionsvermerk auf der Steuerkarte:

Unser Vater Staat der Du bist unser höchster Begriff,
Geheiligt sei Dein Name,
Dein Reich komme,
Dein politischer Gestaltungswille geschehe,
Wie im reinen Begriff, so auch im deinem Territorium.
Unsere tägliche Pension gibt uns heute,
Und vergib uns unseren Eigennutz,
So wie wir auch den Subjekten auf der anderen Seite der Elbe vergeben,
Und überfordere uns nicht mit Desillusionen,
Sondern verhindere, dass wir wieder Nazis werden.
Denn Dein ist die Vergangenheitsbewältigung, die Richtlinienkompetenz und das abstrakte Recht,
Von Koalition zu Koalition,
Amen.

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