von Zoé
"Die Europa-Versager - Kaum ein Politiker mag noch die europäische Idee verteidigen" (ZEIT online, 20.7.2011): diese Schlagzeile fand sich so oder in abgewandelter Form in zahlreichen Ausgaben deutscher Tages- und Wochenblätter der letzten Woche. Von einer Grundsatzdebatte war die Rede, in deren Rahmen weit über die Frage der griechischen Schuldenkrise hinaus die Richtung des gesamten europäischen Projekts neu ausgehandelt werden müsse. Die Alternativen: eine Vertiefung der Beziehungen oder das Eingeständnis, dass die EU nicht mehr steuerbar sei.
Und dann kam der 22. Juli 2011, und mit ihm Anders Behring Breivik. Auf einen minuziös geplanten Massenmord folgte dessen nicht weniger umsichtig in Wege geleitete ideologische Begründung in Gestalt eines "2083- A European Declaration of Independance" betitelten Manifests. Für den Killer Breivik, so ist seinen eigenen Worten zu entnehmen, gehören Manifest und Tat untrennbar zusammen, nicht zuletzt weil ersterem die Funktion zukommt, ihn von jeglicher Schuld reinzuwaschen. Die Welt sei eben so, wie er sie sehe, und damit sei unter anderem das gezielte Abknallen von Kindern und Jugendlichen gerechtfertigt. Doch auch auf einer weiteren Ebene sind Manifest und Tat intrinsisch miteinander verbunden: wenn sie nicht gemeinsam an die Öffentlichkeit gelangt wären, wäre ihre Einzelwirkung in Breiviks Augen ungleich geringer ausgefallen. Sie sind demnach Bestandteil eines ausgefeilten, wenngleich zutiefst kranken Marketings in eigener Sache, wobei die Verbreitung von Breiviks Gedanken im Grunde eine "Verlängerung des Terroraktes" an sich darstellt (Süddeutsche, 28.7.2011). Ein Terrorakt, vorgetragen in Form einer europäischen Unabhängigkeitsdeklaration.
Doch was für eine europäische Unabhängigkeit hat Breivik eigentlich vor Augen? Jedenfalls nicht die Staatengemeinschaft der EU, denn diese macht er für die Anzettelung eines europa-internen Krieges verantwortlich. Hierfür skizziert Breivik eine geheime Verschwörung von Frankreich und anderen 'grossen' Ländern, deren Ziel es sei, eine Allianz mit dem Islam zu schaffen. Dagegen hätten sich die konservativen Nationalisten Europas mit einer Vertreibung aller muslimischen Einwanderer zur Wehr zu setzen. Sein Ansatzpunkt des ethnisch argumentierenden Nationalisten - wie soll er mit dem Europagedanken aufgehen? Kein Problem für den vielseitigen Breivik: obwohl er gemäss Eigendarstellung nicht an den christlichen Gott glaubt, sieht er im kulturellen Element des Christentums eine europaüberspannende Klammer. Aber wie schon bei der Novalisrede stellt sich die Frage, ob diese Klammer am Ende genug Spannkraft besitzt.
Wenn der derzeitige Stand verschiedener Europa-Diskussionen eins zutage fördert, dann dies, dass es gegenwärtig weder in den Köpfen, noch auf dem Papier ein geeintes Europa gibt - und auch nie gegeben hat. Und dass es erst noch einer politischen wie ideellen Anstrengung bedarf, wollte man einer eher ablehnend eingestellten europäischen Bevölkerung die Idee wirklich schmackhaft machen. Im Vorwort zur Erstausgabe einer Buchreihe unter dem programmatischen Titel 'The Making of Europe' brachte der renommierte französische Historiker Jacques Le Goff 1995 dazu folgende basale Überlegungen aufs Papier:
Jacques Le Goff (* 1924) "Europe is in the making. This is both a great challenge and one that can be met only by taking the past into account - a Europe without history would be orphaned and unhappy. Yesterday conditions today; today's actions will be felt tomorrow. The memory of the past should not paralyse the present: when based on understanding it can help us to forge new friendships, and guide us towards progress. Europe is bordered by the Atlantic, Asia and Africa, its history and geography inextricably entwined, and its past comprehensible only within the context of the world at large. The territory retains the name given by the ancient Greeks, and the roots of its heritage may be traced far into prehistory. It is on this foundation - rich and creative, united yet diverse - that Europe's future will be built.
(...) In their efforts to achieve accord and unity the nations of Europe have faced discord, division and conflict. It is no purpose of this series to conceal these problems: those commited to the European enterprise will not succeed if their view of the future is unencumbered by an understanding of the past. The title of the series is thus an active one: the time is yet to come when a synthetic history of Europe will be possible. The books we shall publish will be the work of leading historians, by no means all European. They will address crucial aspects of European history in every field - political, economical, social, religious and cultural. (...) Our aim is to consider the key questions confronting those involved in Europe's making, and at the same time to satisfy the curiosity of the world at large: in short, who are the Europeans? where have they come from? whither are they bound?"
Ob eine funktionierende EU die einzige Möglichkeit darstellt, in absehbarer Zukunft so etwas eine einheitliche europäische Identität zu generieren respektive den beteiligten Ländern in globaler Perspektive langfristig Handlungsmacht zu sichern, wird sich erst noch zeigen. Angesichts der heutigen Ausgangslage besteht sicherlich Grund zum Zweifel. Unabhängig davon sollten wir uns alle jedoch die Grundsatzfrage stellen, wie wir uns selbst als Europäer verstehen und wie unser Europa aussehen soll. Ansonsten könnte es durchaus geschehen, dass Breivik und seine Sympanthisanten uns über kurz oder lang ihre Vorstellung davon aufzwingen.